Artikel in der Schnecke von jana Verheyen
SCHNECKE Nr. 101, September 2018, Seiten 60 und 61
„WIE ENTSTRESSE ICH MEINEN ARBEITSTAG? Wünsche an das besser hörende Umfeld kommunizieren" Einige Tipps und Tricks von JANA VERHEYEN zum Thema Hör-Stress in der „Schnecke“ Das Thema Stress ist allgegenwärtig. Selbst die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet ihn als eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts. Aber wie schaffen dann Hörgeschädigte, die sich für jede Unterhaltung zusätzlich anstrengen müssen, überhaupt ihren Berufsalltag? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig und kein Selbstgänger. Sicher ist, dass typische Stress-Symptome wie Erschöpfung, emotionale Belastung und Burnout reduziert werden können, wenn Hörgeschädigte bewusst mit ihren Ressourcen umgehen, sich genau überlegen, wofür sie ihre Energien hergeben und gezielt nach Lösungen suchen, um die für die Kommunikation zusätzlich benötigten Energien auf ein Minimum zu reduzieren. Im Folgenden möchte ich Ihnen erläutern, wie Sie es schaffen, dass Ihre Kollegen sich auf Ihre Bedürfnisse einstellen, damit Ihnen die Kommunikation leichter fällt und Missverständnisse vermieden werden. Da ich selber inzwischen hochgradig hörgeschädigt bin und als selbständiger Audio Coach meine Klienten darin unterstütze, Lösungen für ihre täglichen Herausforderungen mit Hörminderung zu finden, habe ich die nachfolgende Vorgehensweise selber oft erprobt, mit meinen Klienten getestet und ihre Umsetzung in Selbsthilfe-Workshops mit den hörgeschädigten Teilnehmern geübt. Gerade für die Bewältigung von Stress am Arbeitsplatz sind – unabhängig vom Hörstatus – ein gutes Klima und die Unterstützung durch Chefs und Kollegen besonders wichtig. Dieser Aspekt sollte von Hörgeschädigten unbedingt beachtet werden: wer aufgrund seiner Hörminderung eine gezielte Rücksichtnahme in der Kommunikation benötigt und zudem bei Unterhaltungen schneller energetisch überfordert ist als die gut hörenden Kollegen, ist darauf angewiesen, dass das besser hörende Umfeld Verständnis hat und die Lösungen für eine gelungene Kommunikation in seinem eigenen Interesse umsetzt. Wer stattdessen versucht, mit Hilfe von Verstecktaktiken und übermäßiger Konzentration irgendwie über den Tag zu kommen, wird früher oder später sehr deutlich überfordert sein – und kann außerdem kaum erwarten, dass die Kollegen Verständnis haben. Denn wenn der Betroffene sich nicht äußert, wie soll dann das Umfeld verstehen, was los ist oder was helfen könnte? Ein offener Umgang mit der eigenen Hörminderung, die damit einhergehende ehrliche Kommunikation der eigenen Grenzen an die Kollegen und das gemeinsame Suchen nach praktikablen Lösungswegen sind daher unumgänglich. Entscheidend ist, dass der Hörgeschädigte genau weiß, was er benötigt, wofür es gut ist und welche Vorteile damit für alle Beteiligten einhergehen. Denn da eine Hörschädigung auch immer eine Kommunikationsbehinderung ist, betrifft sie alle an einem Gespräch Beteiligten. Entsprechend dankbar sind die anderen in der Regel, wenn sie verstehen, wo genau das Problem liegt und was sie tun können, damit es – auch für sie, die Gesagtes wiederholen müssen oder sich nicht sicher sein können, ob es verstanden wurde – behoben oder zumindest kleiner wird. Bevor der Hörgeschädigte sich mit seinen Kollegen für ein klärendes Gespräch an einen Tisch setzt, sollte er für sich selber die folgenden Fragen klären: Was ist das Problem? Was genau brauche ich, um es zu lösen? Wer kann was dazu beitragen? Was habe ich davon? Und was hat oder haben der/die andere/n davon? Besonders die Kommunikation der Vorteile ist dabei hilfreich. Bei dem anschließenden Austausch können die verschiedenen Sichtweisen und Vorschläge zur Lösung gemeinsam besprochen werden. Gut möglich, dass die Kollegen auch eigene Ideen haben – die übrigens nicht selten sehr hilfreich sind. Damit Sie besser verstehen, was ich meine, möchte ich Ihnen das Vorgehen anhand eines Beispiels (in direkter Rede und ich-Form) verdeutlichen: Was ist das Problem? „Kollege XY fängt regelmäßig an, mit mir zu reden, obwohl ich gerade am Arbeiten bin und mich auf etwas Anderes konzentriere. Bis ich mitbekommen habe, dass ich gemeint bin, ist die erste Satzhälfte schon rum und mir fehlt die Zeit, um mich einzuhören. In der Folge muss der Kollege den Satz wiederholen. Ständig. Das ist für beide anstrengend und nervig.“ Was genau brauche ich? „Ein direkter Blickkontakt beim Sprechen würde mir sehr helfen. Und eine minimale Vorbereitungszeit, um das, womit ich gerade beschäftigt bin, zu unterbrechen und meine Konzentration auf Kollege XY zu richten, würde ich mir auch wünschen.“ Wer kann was dazu beitragen? „Bevor der Kollege mit mir redet, könnte er meinen Namen nennen. Dann weiß ich, dass ich gemeint bin, kann meine Arbeit unterbrechen und mich ich auf ihn konzentrieren.“ Was habe ich davon? „Ich kann einerseits auf Anhieb und mit wenig gedanklichem Aufwand verstehen, was Kollege XY von mir möchte. Und andererseits kann ich mir sicher sein, dass er nur dann mit mir redet, wenn ich meinen Namen höre. Den Rest der Zeit kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren und brauche nicht permanent akustisch auf der Lauer liegen, für den Fall, dass er mich möglicherweise anspricht.“ Was hat der andere davon? „Kollege XY kann sich sicher sein, dass ich ihn verstanden habe, wenn er mit mir redet, und muss außerdem nicht alles doppelt sagen. Abgesehen davon kann er besser nachvollziehen, wieso ich ihn bisher nicht verstanden habe und was generell für ein entspanntes Sprachverstehen hilfreich ist.“ Dieses Vorgehen können Sie auf fast alle kommunikativen Herausforderungen – nicht nur am Arbeitsplatz – übertragen. Probieren Sie es einfach aus. Zu verlieren haben Sie nicht viel, denn im schlimmsten Fall bleibt alles beim Alten. Im besten Fall kommen Sie deutlich entspannter durch den Arbeitstag. Sie brauchen sich auch keine Sorgen zu machen, dass ein offenes Ansprechen negativ ausgelegt werden könnte. Meiner Erfahrung nach ist das Gegenteil der Fall. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg! Das PDF mit dem Text als Download gibt es hier:
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